Neu im Regal (25)

Wolfgang Herrndorf: Sand. Hamburg (Rowohlt Berlin) 2011. 479 Seiten, 19 Euro 95.

Er wird von einem merkwürdigen Nagetier gebissen, kriegt einen Brieföffner durch die Hand gerammt, wird gefesselt, geknebelt, geschlagen, elektrogeschockt und in einer Schlammpfütze festgepflockt. Aber er weiß nicht, wer er ist. Und der Leser sehr lange auch nicht, wenn er es denn überhaupt je rauskriegt.
Ein Amnestiker ist in Wolfgang Herrndorfs Roman „Sand” auf der Suche nach seiner Identität. Und er ist nicht der einzig Suchende in diesem irren, tobenden Roman, den man zu Anfang gar nicht so recht verorten kann. Denn was soll das sein: ein literarischer Agententhriller? Und was ist das überhaupt für ein Setting: Nordafrika, Wüste, 1972?
Nach seinem eher leicht verdaulichen „Tschick” hat der Berliner Autor Herrndorf etwas mehr Stacheldraht gespannt, den es anfangs zu überwinden gilt: viele Charaktere, höchst unvertrautes Terrain, mit Agenten und Hippies, einer Atomdrohung, einer Oase, einem rätselhaften Vierfachmord und einem Koffer voller Geld. Und mitten drin dieser Mann ohne Gedächtnis, dem auf der Suche nach seiner Identität so böse mitgespielt wird.
Die gute Nachricht ist aber: „Sand” ist zwar höchst komplex und bisweilen auch kompliziert, aber nie unlesbar. Geschrieben von einem, der mit größter Sorgfalt alles durchkomponiert, Hinweise versteckt und Spuren gelegt hat. Denen kann man folgen, oder es auch bleiben lassen und sich an den Dialogen, präzisen Beschreibungen und der auf ihr Ende zutrudelnden Hauptfigur erfreuen.
Trottel sind viele unterwegs in diesem Buch. Und ein Shakespeare-Zitat aus „Macbeth” weist am Anfang des 57. Kapitels den Weg: „A tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing”. Diese verzweifelte Suche nach einem Sinn, den es ja ebenso gut auch gar nicht geben kann, liefert die komischsten, aber auch die existenziell bedrängendsten Passagen, die verzweifeltsten und aussichtslosesten Momente des ganzen Bücherjahres.
Die Coen-Brüder wären gut beraten, sich hierfür schnellstmöglich die Filmrechte zu sichern.