Radaralag

Vorbemerkung: Ich gebe zu, die folgende Geschichte wurde extra für „Das Letz niest V“ geschrieben. Das merkt man daran, dass sie nur vorgelesen richtig gut funktioniert.

Wer wie ich auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen ist, der weiß, wie aufreibend die Suche nach einem Ferienjob sein kann. Das liegt nicht daran, dass es dort keine Arbeitsplätze gäbe oder in den Sommerferien die Bürgersteige hochgeklappt würden. Sondern hauptsächlich an Sprachschwierigkeiten.

Je weiter man sich nämlich vom eigenen Ort entfernt, umso größer werden die Hürden. Aber auch schon wenige Kilometer können tiefe sprachliche Gräben aufreißen. Der große Dialektforscher Arno Ruoff wies nach, dass Dialektgrenzen sogar zwischen nebeneinanderliegenden Dörfern verlaufen können.

So auch in meinem Fall. Nachdem ich in meiner frühen Jugend zunächst als Eisverkäufer gescheitert war, als Kinderwagenschieber schlecht verhandelt hatte, dann als Autowäscher bescheidene Erfolge erzielen konnte und schließlich als Anzeigenakquisiteur für die örtliche Schülerzeitung nicht unbeträchtliche Umsätze vorzuweisen hatte, fühlte ich mich gewappnet für das harte Berufsleben und bewarb mich im Nachbarort bei einer Baufirma, die hauptsächlich im kommunalen Auftrag arbeitete.

Freunde, die es dort schon einmal versucht hatten, warnten mich: Es gäbe eine Probezeit von einem halben Tag. „Was?“, sagte ich mir, „das ist ja wohl ein Klacks.“ Ich bewarb mich und wurde auf den ersten Ferienmontag, Punkt halb acht bestellt. Der Chef persönlich empfing mich. Er lächelte, was ich fälschlicherweise als Freundlichkeit interpretierte. Es war … etwas anderes.

Von halb acht bis Punkt zwölf müsse ich mich bewähren, erklärte der Chef die Spielregeln, von halb zehn bis zehn sei Veschber, da werde Zwischenbilanz gezogen. „Lächerlich“, dachte ich und zählte in Gedanken schon die Kröten, die ich die nächsten vier Wochen verdienen würde.

Dann. Kam. Alfons.

Mein ganzes bisheriges Leseleben hatte ich mich immer wieder gefragt, was eigentlich das Wort „vierschrötig“ bedeutet, denn damals gab es Wikipedia noch nicht, das mir erklärt hätte: „kräftig, breit, gedrungen, derb, grob wirkend“. Aber als ich Alfons sah, wusste ich sofort: Das ist ein Vierschrötiger.
Alfons war der Vorarbeiter und hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, was insofern gut war, als ich ihn ohnehin nicht verstand.

Radlader
Radlader (Bild: Wikipedia)

„Kohsch Radlader fahra?“
„Wie bitte?“
„Kohsch Radlader fahra?“
„Ha?“
„Är moind“, mischte sich sein Kollege Harald ein, der einen guten Kopf kleiner war als Alfons. Ihn findet man in der Wikipedia unter dem Stichwort „Pykniker“, die Erklärung dazu lautet „gedrungener Körperbau, Neigung zu Fettansatz, kurzer Hals und breites Gesicht. Temperament behäbig, gemütlich, gesellig, heiter.“ „Är moind“, übersetzte Harald, „ob du Radlader fahra kohsch.“
„Welche Führerscheinklasse …“, setzte ich zu fragen an, aber Alfons winkte schon ab.
„No fahrd halt dr Harald.“
Unsere kleine Gruppe saß auf, Harald bugsierte sein Gesäß in einen bedrohlich engen Schalensitz, startete den Radlader und fuhr los. Alfons starrte vor sich hin.
„Was machen wir denn heute morgen?“, versuchte ich ein erhellendes Gespräch anzufangen.
Alfons starrte mich ein Weilchen an und rang sich dann eine Antwort ab.
„Am Hallabad dui alde Radaralag alada.“
Das klang irgendwie, als hätte Harald den falschen Gang eingelegt.
„Wie bitte?“ bat ich um Wiederholung.
„Am Hallabad dui alde Radaralag alada.“
„Ha?“
Harald hielt vor einer großen Halle und würgte den Motor ab.
„Är moind“, übersetzte er, „mir sollden am Hallenbad dui alde Radar-aanlage aablaadeen.“

Radaranlage
Radaranlage (Bild: Wikipedia)

Jetzt hatte ich begriffen, worum es bei der Probezeit ging: Ich sollte innerhalb eines halben Tages eine schwere, fremde Sprache lernen, deren Gerüst aus rollenden Rs und unzähligen Nasallauten bestand. Es hätte ebenso gut Ungarisch oder Kisuaheli sein können.

Alfons hatte mittlerweile das Hallentor geöffnet, deutete auf ein drinnen befindliches Hochregal und schrie:
„Harald! Fahr den Karra dra na.“
Ich begann zu verstehen, wie die Sprache funktionierte. Da ich allerdings nicht wusste, was ich dabei tun sollte, schlenderte ich dem Radlader hinterher. Alfons zeigte weiter wortlos auf das Hochregal. Harald setzte den Radlader davor und würgte den Motor ab. Alfons Zeigefinger veränderte seine Position nicht, was ich so interpretierte, dass ich das Hochregal besteigen solle. Das machte Sinn, den Alfons war der Capo und Klettern unter seiner Würde. Harald hingegen saß offenkundig auf seinem Radlader fest. Also erklomm ich das Regal und fand im dritten Stockwerk die kommunale Kfz-Falle. Harald nahm den Radlader wieder in Betrieb und fuhr die Schaufel so weit hoch, dass ich das Gerät hineinwuchten konnte.

Als er vorsichtig zurücksetzte, schrie Alfons plötzlich:
„Langsam rafahra!“ Harald würgte vor Schreck den Radlader ab, was die Hydraulik der Schaufel übelnahm. Die Radaranlage geriet in Schieflage und polterte aus drei Metern Höhe zu Boden.

Die Erde blieb für drei Sekunden stehen. Alfons nahm seine Mütze ab und starrte den Blechhaufen eine Weile lang an. Harald wurde bleich. Dann setzte Alfons seine Mütze wieder auf und wandte sich zu Harald auf seiner Maschine.
„Du Granada-Radladerfahrer!“, schrie er … und begann auf einmal zu lachen.
„Du Granada-Radladerfahrer!“
Harald nahm wieder Farbe an und traute sich ein zögerliches Grinsen.

Und ich? Ich verstand Alfons bei jedem Mal besser.
Vielleicht war es noch etwas früh, aber viel Zeit blieb nicht bis zum Veschber. Daher hielt ich den Zeitpunkt für günstig, meine neu erworbenen Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen und warf von meinem Hochsitz auf dem Regal ein:
„Jetzt hot dui Radaralag an Schada vom Nafalla!“
Alfons schaute verdutzt und nickte dann:
„Graad.“
Dann schaute er mich noch genauer an.
„Hoscht au an Raadschlag paraad?“

Ich dachte nach, beobachtete die Gedankenblase beim Wachsen und sah, wie sich dort eine perfide Idee materialisierte. Auch Alfons und Harald hatten sie gesehen. Wir nickten einander zu und sprachen dann wie aus einem Mund:
„Granaada Sach!“

Um die Geschichte an der Stelle etwas zu verkürzen: Nach dem Veschber, bei dem der Chef eine etwas fadenscheinige Geschichte aufgetischt bekam, stürzten wir uns sogleich in die Arbeit, bei der viele Gegenstände mit rollenden Rs und nasalen Lauten vorkamen. dazu Materialien wie Dachpappe, Radlager, Zanga, und Orte wie Hallenbad und Gefährte wie Fahrrad und Radlader. Wir holten uns dazu noch etliche Utensilien aus einem Fahrradlada und installierten etwas Haardes am Graaba beim Hallabaad.

Am Abend tranken wir no a Halbe im Aadler und ab da waren wir vier Wochen lang die dicksten Freunde.

Wenn jetzt noch jemand wissen will, mit welch ausgeklügeltem Plan wir den Chef so hereinlegten, dass er von da ab glaubte, er selbst habe die alde Radaralag auf dem Gewissen, der möge ein bestimmtes Dorf auf der Schwäbischen Alb aufsuchen, in den Aadler gehen und nach Alfons fragen. Der erzählt jedem gerne die Geschichte, wie er einmal mit dem Harald uffm Radlader dui alte Radaralag am Hallabad alada het solle. Und fügt am Schluss dazu, dass der Harald ein Granada-Radladerfahrer sei.

Und lacht granadamäßig.

Nachtrag: Außerdem ist sie (fast) von vorne bis hinten erstunken und erlogen.

5 Gedanken zu „Radaralag

  1. Das erinnert mich an meine vorgeblich erzwungene Zeit als Hausmeistergehilfe im hiesigen Rathaus. Klasse geschrieben, abr ich muss echt mal wieder zu einer Lesung.

  2. @Alex: Bitte.
    @bendup: Gefilmt wurde Mischgemüse. Wir wurden nur interviewt.
    @Ecki: Stimmt.

  3. Ein prächtiger Beitrag, den Mundartwissenschaftler der Literatursparte KARLEKOMMRADRABBERADRATRA-Prosa zuordnen würden. Wirklich erfahrbar wird der Text allerdings erst durch den erlebten grandiosen Vortrag!

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