Wäre ich an der Uni hängengeblieben, dann würde ich heute wahrscheinlich Blogs analysieren. Private Blogs. Familienblogs. Den Bürger 2.0. Die Möglichkeiten, die sich hier auftun, sind ebenso enorm wie diskussionswürdig (wie auch das Kleinbloggersdorfer Tagesgespräch zeigt).
Nehmen wir mal Christoph, der quasi atemlos von der Diplomsprüfung über den Wohnungswechsel zu den ersten Schritten der kleinen Emma und Maries Einschulung hastet, Tiefgaragenfeuer löscht und Fahrerflüchte erleidet. All das auch sorgfältig fotografisch untermauert. So werden Weblogeinträge zur Dokumentation des postmodernen Bürgeralltags und lassen allenfalls Fragen offen wie “Ist das Einrichten eines Heimkinos als ‘Rite de Passage’ zu interpretieren?”
Der interessierte europäische Ethnologe, vergleichende oder empirische Kulturwissenschaftler, Kulturanthropologe – oder wie auch immer der Volkskundler sich heute nennt – hat jedenfalls seine wahre Freude an dieser Überfülle von Informationen, die früher mühsam dem Feld entrissen werden mussten – aus Schuhkartons auf dem Dachboden, aus Interviews mit erinnerungsfreudigen Senioren oder per teilnehmender Beobachtung in Berliner Punk-WGs.
Und muss gleichwohl dorthin (ins Feld nämlich) zurück. Denn nun bleiben andere Fragen offen: Ist “Eva” unter “Freunde” nur deshalb so alleine, weil alle anderen Freunde noch nicht online sind? Was ist eigentlich “Lambiente”? Was passiert da im Garten? Werden Christophs Kinder in 20 Jahren im Internet-Archiv peinliche Fotos von sich und das überhaupt nicht lustig finden?
Die Themen ändern sich, das Herangehen bleibt dasselbe. Grundvoraussetzung ist der empathische, aber kritische Blick auf den Alltag. Einer, der diesen Blick wie kein anderer beherrschte und (auch mich) lehrte, wurde am Sonntag 80 Jahre alt.
Die EKWler habe ich ohnehin gefressen – tut mir leid, dass ich das sagen muss. Nachdem ich dort einmal im Vorlesungsverzeichnis eine Veranstaltung über die “Kultur des Nachtkästchens” gefunden habe, war ich für immer verloren für die – sicherlich findigen und klugen – Einsichten, die vermeintliche Volkskundler da zusammentragen. Denn so nah beim Volk sind die gar nicht, wie sie immer tun. Und Christoph wird Forschern in der Zukunft ein gefundenes Fressen sein.
“Kultur des Nachtkästchens” – das ist noch gar nichts. Da gab’s mal eine Magister- oder Doktorarbeit über Masturbation im 19. Jahrhundert. Aber das ist für Außenstehende zugegebenermaßen schwer verständlich.
Was auch immer der Gegenstand des Interesses ist – welche Erkenntnisse die Untersuchung der Alltagskultur hervorbringt, hängt selbstverständlich massiv vom Forscher ab.
Aber das ist anderswo genauso.