Wir standen oft an der gleichen Ecke. Die Stoppstelle beim Spohn. Meine Kinder wissen gar nicht, was eine Stoppstelle ist, das gibt es heute nicht mehr. In den Siebzigern auf der Schwäbischen Alb war das einfach der Ortsausgang. Du hast dich hingestellt, deinen Schulranzen – in den Ferien deinen Rucksack – zwischen den Beinen und den frierenden Daumen in die kalte Winterluft gereckt. Es dauerte selten länger als zehn Minuten bis irgendwer anhielt. “Wohin?” – “Mariaberg.” – “Steig ein.”
Die Stoppstelle beim Spohn war denkbar schlecht geeignet. Keine Parkbucht, nur die an dieser Stelle enge B 313. Trotzdem hielt immer irgendwer an. Die Nachfahrenden warteten halt kurz. Ein Mobilitätskonzept aus der Vergangenheit. Der Zug fuhr schon lange nicht mehr, nur alle paar Wochen die Dampflok der Eisenbahnfreunde. Ein Bus fuhr vielleicht alle zwei Stunden.
Roland Kappel stand oft an der gleichen Ecke. Sein Ziel war dasselbe: Nach Hause. Nach Mariaberg. Wir grüßten uns und reckten dann gemeinsam den Daumen in die Luft. Immer hatte er seine Ledertasche dabei und meistens zog er ein Bild heraus, das er einem zeigte. Oder zwei. “Hinterglasmalerei”, erklärte er dann. Oder irgend einen anderen maltechnischen Begriff, mit dem ich nichts anfangen konnte. Wir hatten einen lausigen Kunstlehrer. Alle Schüler des Gymnasiums hatten diesen einen, lausigen Kunstlehrer. Aber der war auch kein Lehrer, sondern Künstler. Zum Unterrichtsbeginn stellte er eine Aufgabe, dann ging er in sein Kämmerchen hinter dem Kunstraum und qualmte eine Zigarette nach der anderen, während in der Klasse die Papierkugeln herumflogen und nur ein paar Mädchen gewissenhaft des Dürersche Rhinozeros abmalten. Roland Kappel besuchte diesen Lehrer oft. Sie waren wohl Gleichgesinnte, aber wir hatten keine Ahnung, worüber sie redeten im Kämmerchen hinter dem Kunstraum, bei einer Zigarette oder zweien.
Roland kannte ich aber schon viel länger. Wir wohnten ja beide in Mariaberg. Als kleiner Steppke, noch nicht mal in der Schule, begleitete ich meinen Vater bei seinem Weihnachtsgang durch die Wohngruppen. Ein Zimmer blieb mir in Erinnerung. Es war voller Baumaschinen. Kinderhohe Kräne, beeindruckende Bagger, bunte Bilder. Das war Rolands Zimmer. Ich war ein bisschen neidisch über die tollen Spielgeräte, denn mir war nicht klar, dass das keine Weihnachtsgeschenke waren. Dass der Mann mit den beeindruckenden Augenbrauen diese Maschinen, die filigran und verletzlich aussahen, aber auch gebraucht wie direkt von der Baustelle, dass er diese Maschinen alle selber zusammengebaut hatte.
Als ich später selber Auto fuhr, nahm ich meinen alten Tramperkollegen natürlich mit, wenn er beim Spohn stand. Oder an der Bundesstraße unterhalb von Mariaberg, wenn er mal nach Norden, mal nach Süden trampte. Er war viel unterwegs. Immer seine Ledertasche unter den Arm geklemmt. Immer Bilder darin. Vor dem Aussteigen zeigte er mindestens eines. Ich glaube, er wollte nicht, dass man ihn dafür lobte. Oder seine Meinung dazu sagte. Er wollte sie einfach zeigen. Es war wie eine Art Mission.
Wie sich später herausstellte, war es genau das: Eine Mission. Genauer gesagt: Eine Baumission. Die Bilder, die er in seiner Aktentasche herumtrug und die Baumaschinen, die er in seinem Zimmer – dann im eigenen Atelier – zusammenlötete, wurden viele Jahre später ausgestellt. In England, Schottland, Belgien. Er gilt als wichtiger Vertreter der “Art Brut” oder “Outsider Art”. Er selber war sich nicht sicher, ob es Kunst war, was er da machte. Alle anderen können das selbst herausfinden.
Roland Kappel ist jetzt im Alter von 75 Jahren gestorben.
Sein Herrgott hat ihn auf die letzte Fahrt mitgenommen.
Gute Fahrt, Roland.