Hausaufgabe

Liebe nervende Politiker, liebe uninformierte Medien,

seid so gut und macht endlich eure Hausaufgaben. Ihr glaubt, ihr wisst, wo diese griechische Malaise eigentlich herkommt?

Der Grieche ist raffgierig.
Hm. Das mittlere Einkommen in Griechenland sank während der Krise von 997 Euro auf 640 Euro.

Griechenland hat eine zu hohe Staatsquote.
Hm. Die liegt in Griechenland 2014 bei 46,36%, in Deutschland bei 44,1%.

Der Grieche ist faul.
Hm. Nach OECD-Berechnungen arbeitet der durchschnittliche Grieche 2.042 Stunden im Jahr, der durchschnittliche Deutsche 1.371.

Eine Krise fordert eben harte Einschnitte. Da hilft nur sparen.
Hm. In der Krise 2008 verlängerte die deutsche Regierung das Kurzarbeitergeld und unterstützte die Automobilindustrie mit einer milliardenschweren Abwrackprämie.

Die Griechen sollen endlich mal was umsetzen, nicht nur versprechen.
Hm. Zwischen 2010 und 2014 haben die verschiedenen griechischen Regierungen 179 Reformgesetze erlassen.

Liebe nervende Politiker, liebe uninformierte Medien,

lest Michalis Pantelouris auf Zeit online und denkt nochmal darüber nach, ob er vielleicht Recht haben könnte mit seinen Worten:

“Ich sage es noch einmal: Die griechische Verwaltung ist ineffizient. Das Steuersystem ist unproduktiv. Das Rentensystem ist chaotisch. Das Gesundheitssystem ist erbärmlich. Das alles war schon vor der Krise so. Ich verstehe nur nicht, wie man auf die Idee kommen kann, eine Regierung, die kein Geld mehr ausgeben darf, werde es schaffen, dies alles zu ändern.”

Griechenland

Mir fehlen langsam die Worte. Gabriel hängt sein Fähnchen nach den Winden, die vom Stammtisch her blasen, Schäuble hat die Sympathiewerte eines Außenministers und deutsche Medien verbreiten Dreck, den man nicht anders als Volksverhetzung nennen kann.

Vielleicht helfen da Worte aus dem Ausland.

Der Schweizerische Tagesanzeiger fasst die letzten sechs Monate der Tsipras-Regierung in einer atemlos machenden Geschichte zusammen.

Der Volkswirtschaftskommentator der New York Times hält die EU-Sparliste für Wahnsinn, der einem Staatsstreich gleichkomme.

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz beschreibt in der TIME Deutschlands Rolle als geschichtsvergessen und fordert US-Hilfe für Griechenland.

Und Yanis Varoufakis erzählt im New Statesman seine Version der Verhandlungen, bei denen an Schlaf nicht zu denken war.

Man sieht: Es gibt auch eine andere Sicht der Dinge. Welche die richtige ist, mag jeder selbst entscheiden.

Ich schäme mich.

Vielleicht ist es ein Fehler, nicht wenigstens gelegentlich die BILD zu lesen, denn so entgeht mir, aus welchem “Leitmedium” der Hass und die Lügen stammen, mit denen die Griechen seit Jahren überzogen werden. Und die in abgeschwächter Form auch von anderen Medien übernommen werden und in Griechen-Witzchen und Nebensätzen von Bekannten und Freunden bei mir ankommen.

Bei Stefan Niggemeier lese ich nun, wie ein ehemaliger deutscher Regierungssprecher in der BILD gegen die Griechen hetzt, sie als Raffke-Griechen diffamiert und ihre Regierung mit Rockern vergleicht:

“Wie lederbejackte Rüpel-Rocker röhren Griechenlands Neo-Premier und sein Posterboy-Finanzminister seit ihrem mit platten Parolen erzielten Wahlsieg durch Brüssel. Ihr Gesetz ist die Straße. Hier sind sie (politisch) groß geworden. Hier ist ihre Hood. Deren Unterstützung wollen die Kawa-Naked-Biker (zumindest Varoufakis hat eine) nicht verlieren.”

Da wird’s mir nicht nur als Motorradfahrer schlecht. Das ist Volksverhetzung.

Wir haben Freunde in Griechenland. Das sind keine Raffkes. Auch ihre Freunde und Verwandte sind keine Raffkes. Auch deren Freunde und Verwandte sind keine Raffkes. In Griechenland gibt es grad so viele Raffkes und Zeitungsarschlöcher wie überall, wie auch in Deutschland. Die kotzen mich in Griechenland genauso an wie in Deutschland.

Unsere Freunde sind keine Raffkes, sondern Menschen, die versuchen mit dem Schlamassel klarzukommen, den die Vorgängerregierungen von Syriza in jahrzehntelanger Vetternwirtschaft verursacht haben. Ich weiß nicht, ob sie Syriza gewählt haben, aber ich würde es verstehen. Ich an ihrer Stelle hätte es wahrscheinlich getan.

Unsere Freunde sind keine Raffkes. Die versuchen, ihren Kindern mit selbstfinanziertem Privatunterricht eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Die ins Ausland gehen, um Geld zu verdienen. Die Zweitjobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Die Tag für Tag um ihre Existenz kämpfen. Und die uns trotzdem immer wieder zu sich einladen, ihr Haus, ihr Essen mit uns teilen.

Was sagen wir denen zu solchen Zeitungsartikeln, zu den Witzchen und Beschimpfungen?

Ich schäme mich.

Elláda (ena)

Wir waren auf dem Weg nach Olympia. Wie winzig wirken die gerade mal 32 Olympischen Spiele der Neuzeit gegen die tausend Jahre währende Geschichte der antiken Spiele. Im Hintergrund hörspielen “Bibi und Tina” in einer elternmarternden Endlosschleife, das Kind hat keine Ohrstöpsel. Im Vordergrund baut sich ein Polizist auf und hebt die Hand. Das Busle rollt auf den Seitenstreifen.

Der Polizist schreitet zur Fahrertür, ich lasse die Scheibe runter und grüße freundlich: “Jassas.” Der Mann spricht nicht, er macht Handbewegungen. Diese hier – nach oben offene Hand mit einklappenden Fingern – signalisiert “Papiere her”. Die Mimik dazu changiert zwischen distinguierter Staatsmacht und gefährlicher Langeweile. Die Papiere, herrje, wo sind die Papiere? Einen Moment sehe ich mich mit gespreizten Beinen und breit gefächerten Armen am Busle festhalten und in aufgerissene Kinderaugen schauen, dann siegt die Routine des weitgereisten Hitchhikers. Im Rucksack!

Ich finde im vorderen Fach das abgegriffene Lederdings, in dem all das Papierene lungert, das man als Fahrzeugführer schlauerweise so bei sich trägt: Ausweis, ASU-Bericht von 2006, Fahrzeugschein, Organspendeausweis für die letzte Motorradausfahrt – und natürlich den Führerschein, auf dem mich ein 18-jähriges Bübchen mit Latzhose anschaut.

Ich fingere Führer- und Fahrzeugschein heraus und händige die Dokumente der Staatsmacht aus: “Parakaló.” Das Beamtenmienenspiel verändert sich von indifferent-wichtig zu wichtig-indifferent. Ich bin nicht sicher, ob er mich auf meinem Führerschein wiedererkennt, mit dem Fahrzeugschein scheint er glücklicher zu sein, denn er liest ihn sehr aufmerksam, geht dann hinter das Busle, um dort irgend etwas zu überprüfen. Wir schwitzen wie spartanische Olympioniken in der Mittagsglut, dann kommt der Mann zurück zum Fenster. Weiterhin wortlos händigt er mir die Papiere zwischen zwei Fingern aus und macht dann die umgekehrte Handbewegung wie vorhin. Handfläche nach unten, die eingebogenen Finger schnellen nach vorne. Weiterfahren! Dann konzentriert er sich bereits auf den nächsten Verkehrsteilnehmer, den er gewissenhaft und unerbittlich kontrollieren wird.


[Quelle: Wikipedia]

Ich stecke die Papiere wieder in das Lederdings und das Lederdings in den Rucksack. Einen Kilometer später fällt mein Auge auf etwas, das im mittleren Handschuhfach liegt: Den Fahrzeugschein. ich krame noch einmal das Lederdings aus dem Rucksack und schaue mir den Fahrzeugschein an, den ich dem Polizisten gab. Den von meinem Motorrad.